Interview 'SINGEN und RESILIENZ' in der Zeitschrift 'Lebenswege'
12.01.2019 23:09
Gesang berührt wohl jeden einmal im tiefsten Inneren, stimmt uns fröhlich oder traurig, sorgt für Emotionen und Spaß. Doch während bei vielen kein Tag ohne ein Lied auf den Lippen verstreicht, tun andere sich damit schwer. Dabei kann Singen jeder lernen. Denn die Stimme ist ein Instrument, wie jedes andere auch. Mit dem Vorteil, dass der Gesang positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat. Susanne Ensthaler erklärt im Interview, wie Singen die Resilienz fördert und unserem Körper hilft, sich selbst zu heilen.
Lebenswege: Ist die positive Wirkung des Singens auf den Körper wissenschaftlich nachgewiesen?
Susanne Ensthaler: Ja, wissenschaftlich sind zahlreiche positive Wirkungen nachgewiesen, sowohl körperlich als auch psychisch. Vom Stressabbau, über die Verbesserung der Herz-Kreislauf-Fitness bis zum Einsatz in der Psychotherapie. Singen fördert unter anderem die Produktion von Glückshormonen, stärkt die Immunabwehr und verbessert die Sauerstoffversorgung.
Lebenswege: Bei welchen konkreten Erkrankungen ist Singen besonders empfehlenswert?
Susanne Ensthaler: Beispielsweise nach einem Schlaganfall. Hier kann Singen dabei helfen, das Sprechen wieder zu erlernen. Menschen mit Aphasie, die also nicht mehr sprechen können, sind sehr wohl in der Lage, Texte zu singen. Zahlreiche Studien zeigen den positiven Einfluss auf Herz-Kreislauferkrankungen. Sehr hilfreich ist Singen für Menschen mit Erkrankungen der Atemwege. Besonders berührende Erfahrungen habe ich mit Singgruppen für Parkinson- sowie Krebspatientinnen. Und derzeit leite ich Singruppen in der Geriatrie. Bei Demenzkranken kann Singen Erinnerungen wecken.
Lebenswege: Singen ist für viele Menschen ein Hobby, das gute Laune bringt, somit auch heilsam für die Psyche, oder?
Susanne Ensthaler: Durchaus. Singen hat umfassende Effekte. Die Lebensfreude steigt und ich erlebe, dass die Menschen achtsamer, offener und flexibler werden. Singen sorgt dafür, dass wichtige psychosoziale Grundbedürfnisse erfüllt werden. Das gemeinsame Tönen einfacher Lieder, besonders der gezielte Einsatz von biographisch bedeutsamen Liedern, schafft eine Situation der Geborgenheit und des Vertrauens in sich selbst. Das erhöht die Fähigkeit, sich bei psychischen Belastungen gesund zu verhalten. Gerade bei Depressionen und Angststörungen zeigen sich sehr positive Effekte. Singen macht glücklich. Auch bekommen Sängerinnen weniger Erkältungskrankheiten, weil sich mit der Stimme zugleich die Stimmung und damit die Abwehrlage verbessert. Singen ist ein natürliches Antidepressivum.
Lebenswege: Macht es für uns einen Unterschied, ob wir alleine oder in der Gemeinschaft singen?
Susanne Ensthaler: Im empathischen Miteinander bestärken und ermutigen sich die Menschen gegenseitig. Begegnungen in den Singgruppen führen zur Bildung tragfähiger sozialer Netzwerke. Es entstehen Freundschaften. Die gegenseitige Hilfsbereitschaft und Ermutigung setzt sich oft über die Singangebote hinaus in den Alltag fort. Gemeinsam singen ist immer mehr als die Summe aller Stimmen. Untersuchungen zeigen, dass sich bei Sängerinnen in Chören sogar der Herzschlag angleicht und dass die Herzratenvariabilität steigt. Singen in Gemeinschaft steigert Herz-Kraft und Herzlichkeit.
Lebenswege: Wie genau schaffe ich, dass das Singen seinen „Zweck“ erfüllt?
Susanne Ensthaler: Es geht nicht darum, dass wir etwas aufführen oder etwas in Form bringen wollen. Sondern es geht um den natürlichen, spontanen Ausdruck, um absichtsloses Tönen und Lauschen. Keiner muss musikalische Vorkenntnisse haben oder Noten lesen können, um mitzumachen. Vielmehr geht es um das Erlebnis an sich, um die Lust am Singen. Das achtsame, natürliche Eintauchen ins Spiel mit dem Körper und der Stimme, ins Miteinander-Tönen, ermöglicht einen angstfreien Zugang zu den individuellen Ressourcen.
Lebenswege: Wie genau funktioniert das heilsame Singen, wie wirkt es auf den Körper?
Susanne Ensthaler: Singen versetzt den ganzen Körper in Schwingung. Doch grundlegend ist beim Singen der Atem. Singen ist tönendes Ausatmen. Verlängerte und vor allem kontrollierte Atemphasen sorgen beim Singen dafür, dass der Körper mit Sauerstoff durchströmt wird. Das verbessert sowohl die Elastizität der Atemmuskulatur als auch des Lungengewebes. Wir fühlen uns automatisch munterer und leistungsfähiger. Der Kreislauf kommt in Schwung, die Verdauung wird angekurbelt und unsere Aufmerksamkeit erhöht. Die entstehenden Schwingungen und Vibrationen führen zu einer vermehrten Entschlackung der inneren Organe und stimulieren deren Funktion. Singen harmonisiert das gesamte Vegetativum. Es gibt kaum ein besseres und wirksameres Mittel, das emotionale Belastungen auflöst, das die Selbstheilkräfte reaktiviert und das uns spontan jederzeit zur Verfügung steht, als das Singen.
Ein großes DANKE an ANNA HAUSMANN, für die Ausarbeitung und Gestaltung des Artikels!
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